Samstag, 11. Februar 2017

Berlinalehektik

Im zehnten Jahr führe ich hier mein öffentliches Arbeitstagebuch als Dol­met­scherin und Über­setzerin. Als frei­be­ruf­li­che Sprach­mitt­lerin ar­bei­te ich in Paris, Heidelberg und Marseille — und schreibe derzeit aus Berlin.

Blick durch die Glasfront auf den roten Teppich
Im Festivalpalast
Früher wurden die Aufträge fürs In­ter­view­dol­metschen in den Wochen vor Be­ginn der Berlinale vergeben. Die Ein­satz­pla­nung ging Ende Januar los, am ersten Tag des Film­fes­ti­vals stand der eigene Ter­min­plan. Fünf bis zehn Prozent ergaben sich dann spon­tan.

Heute ist der Montag vor Berlinalestart als erster Planungstag offenbar die Regel. Und die gleichen fünf bis zehn Prozent, die frü­her die Ausreißer waren, sind heute die länger vorab geplanten Termine.

Das Internet scheint viele in der trü­ge­ri­schen Annahme zu wiegen, dass jederzeit jemand zu finden ist ...

Einschub: Noch ein Aspekt, denn Qualitätsunterschiede scheinen als Kriterium bei der Buchung nicht mehr im Vordergrund zu stehen, vermutlich, weil die Pres­se­be­richt­er­stat­tung insgesamt an Bedeutung verloren hat. Auch das hängt mit dem Netz zusammen: Die Internetwirtschaft hat viel Geld aus den Printmedien ab­ge­zo­gen, infolgedessen wurde auch der Filmberichterstattung weniger Platz ein­ge­räumt und ih­re Bezahlung nicht mehr an den Kaufkraftverlust angepasst. Weniger Kri­ti­ker­per­sön­lich­kei­ten, auf deren Meinung über den Film die Leser einst ge­war­tet haben, konnten sich äußern bzw. neue Stimmen herausbilden. Einschubende.

So eine Last Minute-Buchung hindert mich als Profi alter Prägung schlimmstenfalls daran, von den Regisseuren, für die ich arbeite, noch andere Filme zu sehen, so­fern ich sie noch nicht kenne. Vorbereitung ist wichtig. Früher, als Filme des Wett­be­werbs noch simultan verdolmetscht wurden, waren viel mehr Sprachprofis ak­kre­di­tiert. Mit diesen Mitarbeiterausweisen kamen wir überall rein. Es war normal, dass wir als Dolmetscherinnen und Dolmetscher uns neben den Ein­sät­zen wei­ter­bil­den, die Regisseurinnen/-eure und anderen Talente be­ob­ach­ten. Mag er oder sie auch die­ses Jahr nicht relevant sein, nächstes Jahr kann's anders sein.

Grundsätzlich muss ich einen Fim gesehen haben, bevor ich ein Gespräch dazu dol­met­sche, sonst sage ich ab. Heute bekomme ich leider nicht mehr nur von Platz­an­wei­sern Sätze zu hören wie: "Sie müssen den Film nicht kennen, Sie müssen ja nur die Wörter dolmetschen."

Im Weißen Haus sitzt ein kulturferner ("Ich hasse Bücher"), verhaltensauffälliger Opa, der vom Politgeschäft keinen blassen Schimmer hat. Er ist die Spitze des Eis­bergs. Wieso sind Bildungsverachtung und mangelnder Professionalismus ei­gent­lich gerade so groß in Mode? Ist es eine irrationale Anbiederung an die Bildungsfernen, vor de­nen zugleich die Angst immer mehr wächst?

Liegt es daran, dass viele Kulturverwalter insgeheim davon träumen, selbst Kul­tur­schaf­fen­de zu sein, sich das aber nicht zugetraut haben und nun von untergründig wirksamen Rachegefühlen bewegt sind? Und warum wirkt sich das erst jetzt aus? Vielleicht sind diese Menschen früher viel eher von den normalen Wirt­schafts­be­trie­ben aufgesogen worden. Ganz sicher gibt es jetzt in Zeiten, in denen nur noch wenige Industriearbeitsplätze in Deutschland übriggeblieben sind, viel mehr dieser Kulturverwalter.

Menge und Hintergrund dieser Entscheider sagt nichts über ihre Richtung aus.
Die Frage ist alles andere als rhetorisch gemeint. Ich verstehe das wirklich nicht.

______________________________
Foto: C.E.

Keine Kommentare: